Rubrik: Christliche Bekenntnisse

Die Berliner Erklärung von 1909


Geschichtlicher Hintergrund

Die "Berliner Erklärung" wurde am 15. September 1909 in Berlin im Hospiz St. Michael verabschiedet.

In dieser Stellungnahme distanziert sich die evangelisch-lutherische Gnadauer Gemeinschaftsbewegung und Evangelische Allianz scharf von der aufkommenden Pfingstbewegung und ihren fragwürdigen und problematischen Begleiterscheinungen.

Walter Michaelis, der Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, war im Frühjahr 1909 von General von Viebahn ermuntert worden, einen Vorbereitungsausschuss für eine Resolution einzuberufen, die Stellung zur gerade entstehenden Pfingstbewegung beziehen sollte. Dieser Vorbereitungsausschuss kam zusammen und so tagten Michaelis, von Viebahn, Stockmayer, Seitz und Wittekind zwei Tage im Hospiz St. Michael in Berlin. Dieser Ausschuss kam überein, eine größere Versammlung von Brüdern aus kirchlichem und freikirchlichem Raum anzuberaumen. So lud man im Herbst 1909 zu einem weiteren Treffen nach Berlin ein. Nach einer 19-stündigen Mammutsitzung formulierte dann ein Ausschuß (Michaelis, Stockmeyer, Schrenk und Schopf) eine Erklärung, die von 56 der 60 geladenen Vertretern des Gnadauer Verbandes und der Evangelischen Allianz angenommen wurde.

Als Antwort auf die "Berliner Erklärung" verfasste die Pfingstbewegung am 29. September 1909 die "Mülheimer Erklärung".

Durch die "Berliner Erklärung" kam es zu einer tiefen und lange andauernden Distanzierung der Evangelischen Allianz und den Gnadauer Gemeinschaftsverbänden von der Pfingstbewegung.

Erst in jüngerer Zeit sind vermehrte Anstrengungen unternommen worden, diesen Graben zu überwinden. 1996 wurden in einer vom Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz und dem Präsidium des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden verabschiedeten „Kasseler Erklärung" gegenseitige Verurteilungen aufgehoben und neue Möglichkeiten zur Zusammenarbeit aufgezeigt.


Der Wortlaut der Erklärung

1. Wir sind nach ernster gemeinsamer Prüfung eines umfangreichen und zuverlässigen Materials vor dem Herrn zu folgendem Ergebnis gekommen:

a) Die Bewegung steht im untrennbaren Zusammenhang mit der Bewegung von Los Angeles, Christiana, Hamburg, Kassel, Großalmerode. Die Versuche, diesen Zusammenhang zu leugnen, scheitern an den vorliegenden Tatsachen.

b) Die sogen. Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten; sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fällen haben sich die sogenannten "Geistbegabten" nachträglich als besessen erwiesen.

c) An der Überzeugung, dass diese Bewegung von unten her ist, kann die persönliche Treue und Hingebung einzelner führender Geschwister nicht irre machen, auch nicht die Heilungen, Zungen, Weissagungen usw., von denen die Bewegung begleitet ist. Schon oft sind solche Zeichen mit ähnlichen Bewegungen verbunden gewesen, z.B. mit dem Irvingianismus, ja selbst mit der "christlichen Wissenschaft" (Christian Science) und dem Spiritismus.

d) Der Geist dieser Bewegung bringt geistige und körperliche Machtwirkungen hervor; dennoch ist es ein falscher Geist. Er hat sich als solcher entlarvt. Die hässlichen Erscheinungen wie Hinstürzen, Gesichtszuckungen, Zittern, Schreien, widerliches, lautes Lachen usw. treten auch diesmal in Versammlungen auf. Wir lassen dahingestellt, wie viel davon dämonisch, wie viel hysterisch oder seelisch ist, gottgewirkt sind solche Erscheinungen nicht.

e) Der Geist dieser Bewegung führt sich durch das Wort Gottes ein, drängt es aber in den Hintergrund durch sogen. "Weissagungen". Vgl. 2. Chron. 18, 18-22. Überhaupt liegt in diesen Weissagungen eine große Gefahr; nicht nur haben sich in ihnen handgreifliche Widersprüche herausgestellt, sondern sie bringen da und dort Brüder und ihre ganze Arbeit in sklavische Abhängigkeit von diesen "Botschaften". In der Art ihrer Übermittlung gleichen die letzteren den Botschaften spiritistischer Medien. Die Übermittler sind meist Frauen. Das hat an verschiedenen Punkten die Bewegung dahin geführt, dass gegen die klaren Weissagungen der Schrift Frauen, sogar junge Mädchen, leitend im Mittelpunkt stehen.

2. Eine derartige Bewegung als von Gott geschenkt anzuerkennen, ist uns unmöglich. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass in den Versammlungen die Verkündigung des Wortes Gottes durch die demselben innewohnende Kraft Früchte bringt. Unerfahrene Geschwister lassen sich durch solche Segnungen des Wortes Gottes täuschen. Diese ändern aber an dem Lügencharakter der ganzen Bewegung nichts. (Vergl. 2. Kor. 11, 3.4.14)

3. Die Gemeinde Gottes in Deutschland hat Grund, sich tief zu beugen darüber, dass diese Bewegung Aufnahme finden konnte. Wir alle stellen uns wegen unserer Mängel und Versäumnisse, besonders auch in der Fürbitte, mit unter dies Schuld. Der Mangel an biblischer Erkenntnis und Gründung, an heiligem Ernste und Wachsamkeit, eine oberflächliche Auffassung von Sünde und Gnade, von Bekehrung und Wiedergeburt, eine willkürliche Auslegung der Bibel, die Lust an neuen aufregenden Erscheinungen, die Neigung zu Übertreibungen, vor allem aber auch Selbstüberhebung, das alles hat dieser Bewegung die Wege geebnet.

4. In Besonderheit aber ist die unbiblische Lehre vom sogen. "reinen Herzen" für viele Kreise verhängnisvoll und für die sogen. Pfingstbewegung förderlich geworden. Es handelt sich dabei um den Irrtum, als sei die "innewohnende Sünde" in einem begnadigten und geheiligten Christen ausgerottet.

Wir halten fest an der Wahrheit, dass der Herr die Seinigen vor jedem Straucheln und Fallen bewahren will und kann (1. Thess. 5,23; Jud. 24.25; Heb. 13,21) und dass dieselben Macht haben, durch den Heiligen Geist über die Sünde zu herrschen. Aber ein "reines Herz", das darüber hinausgeht, auch bei gottgeschenkter, dauernder Bewahrung mit Paulus demütig sprechen zu müssen: "Ich bin mir selbst nichts bewußt, aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt", empfängt der Mensch überhaupt auf Erden nicht. Auch der gefördertste Christ hat sich zu beugen vor Gott, der allein Richter ist über den wahren Zustand der Herzen, vgl. 1. Kor. 4,4. "Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns", 1. Joh. 1,8.

In Wahrheit empfängt der Gläubige in Christo ein fleckenlos gereinigtes Herz, aber die Irrlehre, dass das Herz in sich einen Zustand der Sündlosigkeit erreichen könnte, hat schon viele Kinder Gottes unter den Fluch der Unaufrichtigkeit gegenüber der Sünde gebracht, hat sie getäuscht über Sünden, die noch in ihrer Gedankenwelt, in ihren Versäumnissen oder in ihrem Zurückbleiben hinter den hohen Geboten Gottes in ihrem Leben liegen. Es kann nicht genug ermahnt werden, für die Sünde ein Auge sich zu bewahren, welches nicht getrübt ist durch eine menschlich gemachte Heiligung oder durch eine eingebildete Lehre von der Hinwegnahme der Sündennatur. Mangelnde Beugung über eigene Sünde verschließt den Weg zu neuen Segnungen und bringt unter den Einfluss des Feindes.

Traurige Erfahrungen in der Gegenwart zeigen, dass da, wo man einen Zustand von Sündlosigkeit erreicht zu haben behauptet, der Gläubige dahin kommen kann, dass er nicht mehr fähig ist, einen Irrtum zuzugeben, geschweige denn zu bekennen. Eine weitere traurige Folge falscher Heiligungslehre ist die mit ihr verbundene Herabsetzung des biblischen, gottgewollten ehelichen Lebens, indem man mancherorts den ehelichen Verkehr zwischen Frau und Mann als unvereinbar mit wahrer Heiligung hinstellt, vgl. 1. Mose 1,28 und Eph. 5,31.

5. In der sogen. Pfingstbewegung steht in Deutschland P. Paul als Führer vor der Öffentlichkeit. Er ist zugleich der Hauptvertreter der vorstehend abgewiesenen unbiblischen Lehren. Wir lieben ihn als Bruder und wünschen ihm und der Schar seiner Anhänger in Wahrheit zu dienen. Es ist uns ein Schmerz, gegen ihn öffentlich Stellung nehmen zu müssen. An Aussprachen mit ihm und an Ermahnungen im engeren und weiteren Brüderkreis hat es nicht gefehlt. Nachdem alles vergeblich war, müssen wir nun um seinet- und der Sache Gottes willen hiermit aussprechen: Wir, die unterzeichnenden Brüder, können ihn als Führer und Lehrer in der Gemeinde Jesu nicht mehr anerkennen. Wir befehlen ihn in Liebe, Glaube und Hoffnung der zurechtbringenden Gnade des Herrn.

6. Wir glauben, dass es nur ein Pfingsten gegeben hat (Apg. 2). Wir glauben an den Heiligen Geist, welcher in der Gemeinde Jesu bleiben wird in Ewigkeit, vgl. Joh. 14,16. Wir sind darüber klar, dass die Gemeinde Gottes immer wieder erneute Gnadenheimsuchungen des Heiligen Geistes erhalten hat und bedarf. Jedem einzelnen gilt die Mahnung des Apostels: "Werdet voll Geistes!" Eph. 5,18. Der Weg dazu ist und bleibt völlige Gemeinschaft mit dem gekreuzigten, auferstandenen und erhöhten Herrn. In ihm wohnt die Fülle des Geistes leibhaftig, aus der wir nehmen Gnade um Gnade. Wir erwarten nicht ein neues Pfingsten; wir warten auf den wiederkommenden Herrn.

Wir bitten hiermit alle unsere Geschwister um des Herrn und seiner Sache willen, welche Satan verderben will: Haltet euch von dieser Bewegung fern! Wer aber von euch unter die Macht dieses Geistes geraten ist, der sage sich los und bitte Gott um Vergebung und Befreiung. Verzaget nicht in den Kämpfen, durch welche dann vielleicht mancher hindurchgehen wird. Satan wird seine Herrschaft nicht leichten Kaufes aufgeben. Aber seid gewiß: Der Herr trägt hindurch! Er hat schon manchen frei gemacht und will euch die wahre Geistesausrüstung geben.

Unsere feste Zuversicht in dieser schweren Zeit ist diese: Gottes Volk wird aus diesen Kämpfen gesegnet hervorgehen! Das dürft auch ihr, liebe Geschwister, euch sagen, die ihr erschüttert vor den Tatsachen steht, vor welche unsere Worte euch stellen. Der Herr wird den Einfältigen und Demütigen Licht geben und sie stärken und bewahren. Wir verlassen uns auf Jesum, den Erzhirten. Wenn jeder dem Herrn und seinem Worte den Platz einräumt, der ihm gebührt, so wird er das Werk seines Geistes, das er in Deutschland so gnadenreich angefangen hat, zu seinem herrlichen, gottgewollten Ziele durchführen. Wir verlassen uns auf ihn, der das spricht: "Meine Kinder und das Werk meiner Hände lasset mir anbefohlen sein!" (Jes. 45,11 - wörtlich übersetzt)

Berlin, den 15. September 1909

Für diese Resolution hatten gestimmt:

Bähren, Hannover;
Bartsch, Charlottenburg;
Blecher, Friedrichshagen;
A. Dallmeyer, Leipzig;
Broda, Gelsenkirchen;
Dolmann,Wandsbeck;
Engel, Neurode;
Evers, Rixdorf;
Frank, Hamburg;
Grote, Oberfischbach;
Hermann, Berlin;
Heydorn, Frankfurt (Oder);
Huhn, Freinwalde;
Ihloff, Neumünster;
Jörn, Berlin;
Kmitta, Preußisches Bahnau;
Knippel, Duisburg-Beck;
Köhler, Berlin;
Graf Korff, Hannover;
Kühn, Gr. Lichterfelde;
Lammert, Berlin;
Lohse, Breßlaus;
K. Mascher. Steglitz;
Fr. Mascher, Lehe;
Meister, Waldenburg;
Merten, Elberfeld;
Michaelis, Bielefeld;
Frh. v. Patow, Zinnitz;
Rohrbach, Charlottenburg;
v. Rotkirch, Berlin;
Rudersdorf, Düsseldorf;
Ruprecht, Herischdorf;
Sartorius, Sterbfritz;
Scharwächter, Leipzig;
Schiefer, Neukirchen;
Schopf, Witten;
Schrenk, Barmen;
Schütz, Berlin;
Schütz, Rawitsch;
Seitz, Teichwolframsdorf;
Simoleit, Berlin;
Stockmayer, Hauptwyl;
v. Tiele-Winckler, Rothenmoor;
Thiemann, Marklissa;
v. Treskow, Camenz (Schleßien);
v. Thümmler, Selka;
M. Urban, Kattowitz;
Urbschat, Hela;
Vasel, Königsberg;
v. Vieban, Stettin;
Wächter, Frankfurt (Main);
Wallraff, Berlin;
Warns, Berlin;
Wüsten, Görlitz;
v. Zastrow, Groß Breesen.

Zustimmungen wurden erbeten von Wittekindt in Wernigerode (Harz).

Vier Brüder enthielten sich der Stimme: Graf Pückler, Missionar Eßler, Robert Kusch, N.N.



Hinweis

Die Namen der 56 Brüdern, die diese Resolution angenommen hatten, standen aufgelistetet unter der Erklärung. Vier Brüder hatten ihre Zustimmung verweigert.

Es gibt heute von der damaligen Sitzung weder ein Protokoll noch die Original-Urkunde.

Da das Original nicht vorliegt, ist nicht klar, ob die "Berliner Erklärung" auch handschriftlich von den einzelnen Brüdern unterschrieben worden war.



Literatur

Wolfgang Bühne: Spiel mit dem Feuer, Bielefeld: CLV, 2. Auflage 1991 (Text S. 265)

Ernst Giese: Und flicken die Netze. Dokumente zur Erweckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. 3. Auflage. Ernst-Franz-Verlag, Metzingen 1988.

W. J. Hollenweger: Enthusiastisches Christentum, die Pfingstbewegung in Geschichte und Gegenwart. Hrsg.: R. Brockhaus-Verlag, Zwingli-Verlag, Wuppertal/Zürich 1969.

Dieter Lange: Eine Bewegung bricht sich Bahn, Giessen: Brunnen-Verag, Dillenburg: Gndauer Verlag, Lizenzausgabe der Ev. Verlagsanstalt GmbH Berlin, 1979 (Text S. 287f)

Walter Michaelis: Erkenntnisse und Erfahrungen aus 50 jährigem Dienst am Evangelium, Gießen: Brunnen-Verlag, 1949



Eine Stellungnahme der "Gnadauer Gemeinschaftsbewegung" und der "Deutschen Evangelischen Allianz" zur aufkommenden Pfingstbewegung in Deutschland aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts.