Nachdem 1909 die "Berliner Erklärung" formuliert worden war, folgten viele Gemeinschaften von Gnadau dieser Einschätzung ihrer Leiter und positionierten sich gegen die aufkommende Pfingstbewegung.
Es gab jedoch auch die sogenannten "Neutralen". Diese konnten sich weder für noch gegen die Pfingstbewegung entscheiden und nahmen eine abwartende Haltung ein. Die Mehrzahl der Neutralen folgten sich jedoch nicht dem Gnadauer Vorstandsbeschluß, sondern versuchten, durch Verhandlungen mit führenden Pfingstleuten eine begrenzte Einigung wiederherzustellen.
Im Herbst 1910 trafen sich Vertreter der Pfingstbewegung und der Neutralen zu gemeinsamen Gesprächen in Patmos bei Jakob Vetter und später in Vandsburg bei Krawielitzki.
Die Bemühungen der Neutralen, den Pfingstleuten den Irrtum ihrer Lehren aufzuzeigen und sie zur Aufgabe der Bewegung zu veranlassen, schlugen fehl. Nach längeren Verhandlungen gaben jedoch beide Parteien eine Erklärung ab, die die Grundlage für weiteres Entgegenkommen bilden sollte.
Die Erklärung der Pfingstler hatte folgenden Wortlaut:
"Auf den Zusammenkünften in Patmos und Vandsburg haben liebe Brüder, denen die
Einigkeit im Volke Gottes und die Sache Jesu am Herzen liegt, auf Grund ihrer Beobachtungen folgende betrübende Tatsachen mitgeteilt, die hin und her in unsern Kreisen vorgekommen sind:
A. Gewisse Geschwister haben teuren, im Geiste stehenden, von Gott gesegneten Kindern Gottes die Innewohnung des Heiligen Geistes abgesprochen, weil dieselben nicht die Gabe des Zungenredens usw. empfangen hätten. Auch haben leitende Brüder nach dieser Richtung hin gefehlt und gelehrt.
B. Andere wiederum, die im Besitze von geistlichen Gaben sich befanden, haben darauf Anlaß genommen, sich zu überheben, als stünden sie aus diesem Grunde geistlich höher und seien sozusagen Christen erster Klasse.
C. Noch andere glaubten wegen ihrer Ausrüstung mit irgendwelchen Gaben sich in solcher Geistesleitung zu befinden, daß sie sich von andern nichts mehr sagen lassen wollten und dabei sogar gegen klare Schriftlinien verstießen.
D. Andere haben im Parteigeist auf geistliche Gaben hinzuwirken gesucht an Orten, wo brüderliche Liebe und Weisheit von oben es nicht zugelassen haben würde, und haben sich dabei Heimlichkeiten, Unlauterkeiten und große Verkehrtheiten zuschulden kommen lassen.
E. Andere endlich haben bei sich selbst und andern tatsächlich vorgekommene Fehler nicht genügend anerkannt und sogar beschönigt. Zudem haben sie sich dadurch versündigt, daß sie die Zurechtweisenden deswegen nicht als ihre Freunde, sondern als ihre Gegner angesehen und bezeichnet haben.
Solche Vorkommnisse sind uns ein tiefer Schmerz, und wir bekennen unsere Mitschuld daran. Wir haben deswegen zumal auf den letzten Konferenzen und auch in den Pfingstgrüßen entsprechende Zurechtweisungen zu geben gesucht. Da wir uns jedoch unserer Verantwortung auch in diesen Dingen bewußt sind, beugen wir uns wegen jeder Unterlassung und Verfehlung, deren wir uns durch Mangel an Belehrung, Erkenntnis und sonst wie schuldig gemacht haben.
Um der Wichtigkeit der Sache und der brüderlichen Liebe willen nehmen wir nochmals Veranlassung, die teuren Geschwister hin und her herzlich zu bitten, für derartige Verstöße mit uns Buße zu tun und dieselben gänzlich zu meiden.
Die nachfolgenden fünf Sätze, durch welche die obigen fünf Punkte beantwortet werden, wollen dazu eine Handreichung tun, und wir bitten, die selben um Jesu willen recht zu beachten.
I. Als Geistgetaufte sind nach 1. Kor. 12,13 alle wahren Kinder Gottes anzusehen, die in den Tod Jesu eingegangen sind und sein Leben durch den heiligen Geist empfangen haben. Röm. 6.
II. Die geistlichen Gaben an und für sich bedeuten weder Taufe noch tiefere Erfüllung mit heiligem Geist. 1. Kor. 13,1; Matth. 7,20-23. Für unsere Stellung zu Gott sind nicht die geistlichen Gaben, sondern Leben und Wandel im Geist entscheidend. Gal. 5,16-25.
III. Unser Blick darf sich nicht in den Gaben verlieren oder sonstwie über die Lehren der Schrift hinausgehen noch dagegen verstoßen, sondern Hauptsache muß uns sein die Verherrlichung Jesu Gal. 6,14; die Ausgestaltung in sein Bild 2. Kor. 3, wozu auch gehört, daß man sich sagen läßt Jak. 3,17; der wahre Gottesdienst Röm. 12,1-2; Jak. 1,27 usw.; Rettung von Menschenseelen Matth. 2o,28 und die Zubereitung für des Herrn Kommen 1. Joh. 3,3.
IV. Wo Geistesgaben als Hauptsache und Parteisache angesehen und behandelt werden, wird die Einigkeit im Geist mit dem ganzen Volk Gottes gestört. Die geistlichen Gaben zum gemeinen Dienst gegeben. Mit Segen können sie nur da gebraucht werden, wo man sich weder vordrängt noch auch aufdrängt. Alle Heimlichkeiten und Unlauterkeiten müssen als zum Gebet der Finsternis gehörig wegfallen.
V. Vorgekommene Fehler laßt uns nicht beschönigen. Laßt uns in solchen Fällen Vergebung suchen und sie abtun. Uns geziemt es, niemandem ein Ärgernis zu geben. Seien wir daher dazu bereit, uns von jedem die Wahrheit zeigen zu lassen. 1. Kor. 10,32.
Edel-Brieg, Friemel-Glogau, Gensichen-Mülheim, Humburg-Schwetz, v. Gordon-Laskovitz, Humburg-Mülheim, Klann-Dt.-Eylau, Lettau-Kietzig, Paul-Steglitz, Regehly-Breslau, Schulte-Osterode, Schulz-Tirschtiegel, Stalder-Danzig, Stellmacher-Dt.-Krone.
Die Neutralen zeigten sich über die Stellungnahme der Pfingstbrüder sehr erfreut, sahen sie doch darin ihre bisherige abwartende Haltung gerechtfertigt.
Sie antworteten mit folgender Erklärung:
1. Obige Erklärung beseitigt einen großen Teil der Punkte, welche wir seither als bedenklich und schriftwidrig in der sogenannten "Pfingstbewegung" erkannt haben, und zeigt uns die Willigkeit der leitenden Brüder, Mißstände abzustellen. Dies erkennen wir an mit herzlichem Dank gegen
unsern gemeinsamen Herrn.
2. Dabei wollen wir nicht versäumen, uns selbst zu beugen über die großen Mängel, welche in dieser schweren Zeit auch bei uns hervorgetreten sind. Wir rechnen dazu die Mängel an brüderlicher Liebe und gegenseitigem Verständnis, an biblischem Licht und der Gabe, irrende Geschwister zurechtzuweisen, besonders aber den Mangel an Kraft, allen Mächten der Sünde und der Finsternis gegenüberzutreten.
3. Wir geben diese Erklärung hier im Zusammenhang mit der vorstehenden ab, weil wir glauben und es auch erfahren haben, daß die "Pfingstgeschwister" durch brüderliches Entgegenkommen und Besprechungen am besten von eigenen Treibereien und sektiererischer Stellungnahme abgelenkt werden.
4. Bei der vielfach hervorgetretenen Bekämpfungsweise der sogenannte "Pfingstbewegung" empfinden wir es sehr schmerzlich, daß nicht genug Gnade und brüderliche Geduld vorhanden war, um in der Bewegung zu unterscheiden, was von unten und was von oben sein könnte. Indem man die ganze Bewegung als von unten und sogar als dämonisch bezeichnete, irrte man schwer. Man verurteilte auch solche Geschwister, ja stellte sie als besessen und abgefallen hin, deren zartes Gewissen, Wandel und Bekenntnis zu dem Herrn Jesus Zeugnisse dafür sind, daß der heilige Geist eine bestimmende Macht in ihrem Leben geworden ist.
Über die Herkunft der gegenwärtig vorhandenen Gaben können wir kein abschließendes Urteil abgeben. Wir gehen mit der Bewegung als solcher nicht mit, weil die Grenzen des Seelischen und Geistlichen in Verwirrung und Gefahr bringender Weise darin vermischt erscheinen.
6. Dabei achten wir aber das Gewissen jedes Bruders, welcher in jedem einzelnen Falle nach Prüfung aufgrund der Heiligen Schrift und vor Gott ein gelegentliches Zusammenarbeiten mit den "Pfingstgeschwistern" für wünschenswert hält oder ablehnt.
Es folgte eine Liste der Brüder, die diese Erklärung mittrugen.
Pfingstler und Neutrale trafen zugleich eine Abmachung über die Abgrenzung der Arbeitsgebiete und gingen mit dem Wunsch auseinander, auch in Zukunft derartige gemeinsame Gespräche fortzusetzen.
Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn, Gießen: Brunnen-Verlag, Lizenzausgabe der Ev. Verlagsanstalt GmbH, Berlin, 1979 S. 218ff