Der Markt der sexuellen Möglichkeiten
Beobachtungen und Trends

von Dorothee Erlbruch [ 1 ]



Ungerührt bewegt sich der moderne junge Erwachsene in der mit Reizen überfluteten Sphäre des öffentlichen Sex.

Auf H&M- und Passionata-Plakaten werben perfekt retuschierte Körper für Dessous. Er nimmt sie nur flüchtig wahr. In Einkaufszentren sieht er Jugendliche, die sich sexy inszenieren. Körperbetonte Mode ist "in". Ja - und? Blättert er in einer Zeitschrift, wird er mit raffiniert präsentierten fast unbekleideten Menschen in Anzeigen für unterschiedlichste Produkte konfrontiert. Jeans, Duschgel, Autos oder Telefone - Sex sells -, mit Sex läßt sich fast alles verkaufen. Zappt er zufällig nachmittags durch die Talk-Show-Programme, begegnet er Themen wie: "Mein Geschenk zum Abi: eine neue Brust." Oder: "Liebe Eltern, ich lasse mich geschlechtlich umwandeln." Sein Großvater wäre entweder schockiert oder "angemacht", er hingegen zeigt wahrscheinlich wenig Interesse. Denn Sex ist überall, man hat sich daran gewöhnt. Und Sex ist fast langweilig und banal geworden.

Ich bin mit Daniel, sieben Jahre alt, im Auto unterwegs. Es ist Anfang Mai und draußen noch relativ kalt. Wir kommen an einem eingezäunten Parkplatz vorbei, auf dem ein Wohnmobil steht. Daneben auf dem Zaun sitzt eine junge Frau in einem Bikini in leuchtendem Pink. "Guck mal Dorothee, die Frau, die friert bestimmt." - "Das glaube ich auch."

Sex als "Dienstleistung" - in aller Öffentlichkeit im Angebot.

Silke ist 24, Studentin und wohnt in einer Wohngemeinschaft. In ihrem Studium kommt sie gut klar, das Fach interessiert sie. Vor fünf Jahren wurde sie Christin. Sie fühlt sich wohl in ihrer lebendigen Gemeinde, ist dort gut integriert und engagiert sich in der Kinderarbeit. Vor vier Wochen lernte sie Sven bei einer Uni-Fete kennen, und seitdem sind sie zusammen. Silke ist sich aber noch nicht sicher im Blick auf ihre Gefühle. Sie mag Sven, das steht außer Frage. Aber besteht eine Chance, daß mehr daraus werden könnte? Sie wünscht sich sehr eine Partnerschaft, die hält. Sex, zusammen schlafen, gehörte für Silke und Sven von Anfang an ganz selbstverständlich zu ihrer Beziehung dazu. Im Beratungsgespräch möchte die junge Frau ihre Gedanken und Gefühle sortieren, um besser herausfinden zu können, was sie eigentlich will.

Das braucht zunächst einmal - unter anderem - Zeit. Dieser Faktor wird aber zunehmend außer acht gelassen. Was mich in der Beratung immer wieder neu berührt, ist das, worum es vermutlich eigentlich geht, wie hier: unter anderem um die Sehnsucht nach einem inneren Zuhause, nach einem Ort der Annahme, des Verstehens, der Zuverlässigkeit. Der Wunsch danach läßt viele die Entscheidung treffen, sich im Bereich Sexualität sehr früh zu engagieren - fast immer ein Irrweg - und sich dadurch sehr verletzbar zu machen: Sie halten den Schwebezustand des Abwägens von Für und Wider im Entscheidungsprozess nicht aus; sie setzen wiederholt alles auf eine Karte und werden so immer wieder verletzt; sie leiden oder werden gleichsam immun - immun gegenüber tiefen Gefühlen. Verletztheit spüren und sie benennen zu können, ist wichtig. Wer sie empfindet, hat zumindest einen Ansatzpunkt. Das allein ist schon viel wert. Manche haben diesen Bereich verkapselt oder abgespalten, so daß es lange dauert oder gar nicht gelingt, überhaupt einen Zugang dazu zu finden.

Sex - selbstverständlicher Bestandteil sich eventuell anbahnender Beziehungen.

Stefan schickt eine E-Mail an die Beratungsstelle: "Eins müssen Sie wissen: Wir haben im Grunde genommen überhaupt keine Probleme. Seit acht Jahren sind wir glücklich verheiratet, haben zwei kleine Töchter. Ich liebe meine Frau, und sie liebt mich. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Aber ich habe ein Problem, das mir ausgesprochen peinlich ist. Schlimmer noch: Inzwischen hat das Problem mich ... Ich hätte nie gedacht, daß mir das passieren könnte. Unsere Ehe ist okay, der Job interessant, wir haben gute Freunde. Ich bin aktiv in der Männerarbeit unserer Kirchengemeinde, Mitglied im Kirchenvorstand. Ich wage es nicht, mein Problem irgend jemandem zu sagen. Ich bete, daß es weggeht, aber es geht nicht weg. Gott kann damit scheinbar nichts anfangen. Abends nehme ich mir fest vor, nur die E-Mails abzurufen, und dann bleibe ich bei den Pornoseiten hängen. Die soften Sachen werden gleich übersprungen, ich weiß, wo ich meinen Stoff finden kann. Da bleibe ich dann hängen. Es ist wie eine Sucht. Ich komme nicht los davon. Manchmal denke ich: Was macht das schon? Es sind ja nur Affären in meinem Kopf. Andere Männer haben Außenbeziehungen. Das ist doch erst richtiger Ehebruch, oder etwa nicht? Bloß was mir auffällt: Ich fange an, den Körper meiner Frau mit den Bildern, die ich sehe, zu vergleichen. Zugegeben: die Realität schneidet schlechter ab. Schon tausendmal habe ich mir vorgenommen aufzuhören. Ich schaffe es einfach nicht. Es ist so verdammt schwer, meiner Frau in die Augen zu schauen. Sie ahnt nichts. Oder etwa doch?"

Von Pornos bis zum Cybersex - die illusionäre Beziehung tritt neben die Realität, überlagert sie und / oder entwickelt eine Eigendynamik

Der Markt der sexuellen Möglichkeiten stellt sich zuweilen paradox und voller Widersprüche dar. Ich möchte hier lediglich Beobachtungen darstellen, mehr nicht. Mit biblischer Ethik, biblischen Werten sind sie nicht vereinbar.

Am auffälligsten ist die allgegenwärtige äußere Sexualisierung. Parallel dazu stellen Sexualwissenschaftler eine innere Entsexualisierung fest. In Ehen und Partnerschaften scheint das Interesse an sexuellen Aktivitäten zurückgegangen zu sein. Eine Erklärung liefert die "Überdruß-Theorie". Paarberatungsstellen verzeichnen landauf landab ein Anwachsen der Lustlosigkeit bei Frauen und Männern. Wobei Lustlosigkeit, bislang eher Problem von Frauen, zunehmend auch zum Problem von Männern wird. Es ist aber im Grunde genommen ein Problem von beiden, delegiert an einen der Partner. Vielleicht spüren Frauen schneller die Öde von Ehen. Lustlosigkeit kann auch Machtausübung bedeuten.

Die heutigen Anforderungen an Beziehungen sind so hochgeschraubt, daß viele es erst gar nicht versuchen, ihnen gerecht zu werden. Wer kann auch schon immer für seinen Mann faszinierend, verständnisvoll, gutaussehend, fit, kreativ, zärtlich sein? Beruflich aktiv, als hingebungsvolle Mutter die Kinder fördern, sich ehrenamtlich in der Gemeinde engagieren usw.? Daß alles gleichermaßen möglich sei, ist eine Illusion.

Da erscheint es doch einfacher, eine kalkulierbarere Beziehungsform zu pflegen. Eine "Mind-Affair" - in der virtuellen Welt -, das ist die männlich bevorzugte Variante. Ein klar definierter Urlaubsflirt - für manche Frau eine illusionäre Antwort auf reelle Bedürfnisse. "Das ist doch besser als gar keinen Freund! Einmal Sex gehabt haben. Einmal hören: Ich liebe dich, auch wenn ich weiß, daß es eine Lüge ist; er würde mich sowieso nicht heiraten." (Ich erinnere mich noch gut an meine Fassungslosigkeit, als ich eine so geplante Entscheidung mitbekam.) Das sei wenigstens noch überschaubar, und man bleibe von mitunter kraftkostenden, hochkomplizierten Beziehungsdiskussionen und -problemen verschont. "Das ist besser als gar keinen Freund." Singles, die eine derartige Wahl treffen, sind leider keine Erfindung. Vordergründig intelligente Frauen nehmen den daraus resultierenden Schmerz und vieles mehr in Kauf. Sie bezahlen einen hohen Preis. Selbst alleinstehende christliche Frauen unterhalten mitunter eine rein sexuelle Beziehung zu einem verheirateten Mann. Menschen, die in ihrer Bedürftigkeit solche sie innerlich selbst schädigende Beziehungen eingegangen sind, brauchen kluge, wegweisende Antworten auf ihre Fragen nach Verortung und Gestaltung ihrer Beziehungen.

Zwei Dinge haben sich stark gewandelt: die Beziehungen und die Moral.

Ein folgenschwerer Trend dürfte die Isolierung von Sexualität sein. Sie wird zunehmend losgelöst von Beziehung, Bindung sowie von Personsein und wird auch so praktiziert. Es lassen sich außerdem trennen: Sexualität und Ehe, Sexualität und Elternschaft, Sexualität und Liebe, Sexualität und Geschlecht usw. Dr. Christl R. Vonholdt vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft spricht in diesem Zusammenhang von einer dreifachen Abkoppelung: "In den 1960er Jahren wurde Sexualität von Ehe und Fruchtbarkeit abgekoppelt. In den 1980er Jahren wurde auf betreiben der Schwulen-Lobby von der Frage des Geschlechts abgekoppelt. Und nun soll Sexualität vom Alter und von der Generationenzugehörigkeit abgekoppelt werden?" (Bulletin Nr.2/2001, S. 1, Hg.:Christen in der Offensive e.V., Postfach 1220, 64382 Reichelsheim).



Der Wandel von Beziehungen

"Das ganz normale Chaos der Liebe" beschrieb die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheimer schon 1990 in ihrem gleichnamigen Buch (Frankfurt / M.). Das real existierende Chaos der Liebe ist normal geworden. Die Liebe ist wichtiger denn je, aber auch schwieriger. Das heißt, von Liebe spricht heute fast niemand mehr; dieses Wort, so inflationär gebraucht, wurde durch den Begriff "Beziehung" ersetzt. (Liebes)beziehungen sind allzu brüchig geworden, wobei die Sehnsucht danach ungebrochen ist. Früher gab es mehr Vorgegebenes, mehr Zwänge, aber auch mehr Sicherheiten. Heute sind theoretische Freiheiten mit großen Unsicherheiten verbunden. Das Versprechen auf Freiheit verbindet sich mit dem Gespenst der Unsicherheit (frei nach Zygmunt Baumann).

In den Gesprächen mit jungen Erwachsenen bei Seminaren, nach Gemeindeveranstaltungen o. ä. ist eine Frage ganz wichtig geworden: Wie können wir es überhaupt hinbekommen, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, sie zu pflegen und zu erhalten? Sie erleben in ihrem Umfeld so viel Zerbruch. Dabei erscheint nach außen alles ganz "easy". X und Y haben sich getrennt, treffen sich aber nach wie vor fast so oft wie früher. Auch den Hauskreis leiten sie weiter gemeinsam. Schmerz - nicht zu sehen. Reife Leistung oder Tiefenvermeidung? Was war dann vorher da?

Andere junge Christen berichten von dem, was sie in ihrem Freundeskreis und ihrem Umfeld an Beziehungszerbruch erfahren. Die Ehen ihrer Eltern betrachten sie oft als negatives Vorbild. So möchten sie Beziehung nicht leben. Aber wie dann? Ich frage manchmal: Überlegt mal, ob ihr das Beispiel einer dynamischen Ehe kennt - ein Paar, von dem ihr sagen könnt: Die zwei sind ein Vorbild - von dieser Ehe strahlt etwas aus, da kommt was `rüber, da spürt man ganz viel Lebendigkeit. Bei dieser Frage werde ich meist schweigend angeschaut.

Ich habe die Ehe von zwei Mitarbeitern einer Gemeinde vor Augen, die nach vier Jahren in die Brüche geht. Sie lassen sich scheiden. Für den Mann scheint das gar kein Problem zu sein. Wer ihm begegnet, sieht ihn fröhlich. Innerhalb kürzester Zeit geht er eine neue Beziehung ein. Seine ehemalige Frau verlagert ihren Schmerz nicht, sie sucht Beratung, beginnt ihre Themen zu erkennen und zu bearbeiten. Sie hatte den Mut dazu.

Viele haben grundsätzlich wenig Hoffnung, daß sie es schaffen könnten. Sie sind desillusioniert. An der Beziehung zu arbeiten, sich anzustrengen, eigene Interessen zeitweise zurückzustellen, Opfer zu bringen, Frustrationen hinzunehmen - diese Haltungen sind unabdingbar, damit Partnerschaft gelingen kann. Glück erfordert immer auch Arbeit. Doch wenn die Hoffnung verlorengegangen ist, schwindet jede Motivation, sich zu investieren.

Dabei ist die Sehnsucht nach gelingenden Partnerschaften ungebrochen.

Die Annahme, eine Trennung oder Scheidung ginge folgenlos an den Beteiligten, insbesondere den Kindern vorüber, ist falsch. Untersuchungen belegen, daß Beziehungszerbruch einer der höchsten Streßfaktoren ist. Eltern sind oft mit ihren emotionalen Konflikten so beschäftigt, daß sie ihre Kinder teilweise aus dem Blick verlieren. Diese sichern sich dann z. B. durch Verhaltensauffälligkeiten die elterliche Aufmerksamkeit. Denn Kinder bleiben in dieser auch für sie schweren Situation oft sehr alleine. Das ist nicht ohne Auswirkungen auf ihr Selbstvertrauen und ihre Bindungsfähigkeit. Beides wird geschwächt.
"Haben Sie die neue Studie über Außenbeziehungen gelesen? Sind Sie nicht auch der Meinung, daß Außenbeziehungen die Primärbeziehung beleben?" Bei einem Seminar stellte eine Diplom-Psychologin diese Frage. Ich sage, daß ich es viel sinnvoller finde, in die Usprungsbeziehung zu investieren - eine exotische Meinung, die aber auch akzeptiert wird.

Es scheint so viele Möglichkeiten zu geben, Beziehung zu leben.



Die Banalisierung / die Veralltäglichung von Sexualität

Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch spricht in seinen Veröffentlichungen in Abgrenzung zur „Sexuellen Revolution“, der totalen Liberalisierung oder der Inthronisation von König Sex Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre heute von einer „Neosexuellen Revolution“. Hauptaussage dieses „Neosexes“ sei, daß sich der Geschlechtsverkehr auf dem Rückzug befinde. Er sei zu einer angenehmen Tätigkeit unter vielen geworden, er habe seine Sonderstellung im Gefühlsleben von Menschen verloren. Sexualität als eine von vielen möglichen Freizeitbeschäftigungen. Das habe nichts mit einer neuen Keuschheit zu tun, vielmehr mit einer neuen Gelassenheit - auch eine Form der Abgrenzung von der Elterngeneration... In der heutigen Gesellschaft wird Sex beinahe wie eine Erlebnisware, eine Lustmöglichkeit unter vielen betrachtet. Er ist absolut nichts Besonderes mehr. Man könnte auch Inliner fahren, einen Psychokurs belegen oder den neuesten Kinofilm anschauen.



Abtauchen in die Illusion, statt Gestalten von Realität

Das Internet bietet unzählige Möglichkeiten. Es ist ganz leicht, Zugang zu Pornos zu bekommen, ohne daß es irgend jemand erfahren könnte. Früher mußte man in die Videothek gehen und lief dabei Gefahr, beobachtet zu werden. Am heimischen PC lassen sich heutzutage die Spuren problemlos löschen. Das ist für viele Männer eine große Versuchung. Pornographie - eine Art neues sexuelles Schlaraffenland in Form eines Selbstbedienungsladens.

Daß Sex zur Sucht werden kann, es klinisch erfaßbare Internet-Sexsucht gibt, die ebenso wie andere Süchte therapeutisch behandelt werden muß, ist Fakt. Bedenklich ist weiterhin, daß sich die männliche Sicht von Frauen und das Selbstbild von Frauen dadurch verändert. Pornographie ist zutiefst frauenverachtend. Hier wird die Sexualität total von Personsein getrennt und zum Bild für die absolute Ware. Pornos stehen für die Vermarktung einer hochprivaten, schützenswerten Begegnung.

So entstehen parallel zwei sexuelle Welten: die anstrengendere, nicht immer so „prickelnde“ des Alltags und die der Phantasie. In letzterer ist es weniger mühsam. Man muß sich dort z. B. nicht mit den Ansprüchen seiner Frau auseinandersetzen.

Man(n) verändert seine Sicht durch das wiederholte Abtauchen in diese „phantastische“ Welt. Man(n) fühlt sich schließlich gleichsam „betrogen“ von der eigenen Frau, die so ganz anders aussieht und reagiert als die retuschierten Körper auf dem Bildschirm.

Anstatt Sexualität mit der eigenen Frau real zu gestalten und zu genießen, wird die Isolation gewählt. Das wiederum bedingt, daß ganz normale Frauen Schwierigkeiten haben, sich in ihrem sich verändernden Körper anzunehmen. Pornographie untergräbt auf diese Weise die Partnerschaft; die virtuelle „Idealfrau“ steht dazwischen. Seelsorger und Berater werden vermehrt mit dieser Thematik konfrontiert. (Vgl. z. B. Christa Meves, Thomas Schirrmacher: Ausverkaufte Würde, Holzgerlingen 2000.)



Das Verschwinden der Sexualmoral

In den 90er Jahren trieben Studenten eines kleinen amerikanischen Colleges, Antioch, eine Art „political correctness“ im Bereich Sexualität auf die Spitze. In einer Vollversammlung beschlossen sie einen für beide Geschlechter und alle sexuellen Orientierungen verbindlichen Katalog mit Regeln sexueller Korrektheit. Jeder wurde verpflichtet, eine beabsichtigte sexuelle Aktivität mittels klarer Frage und Antwort vorher abzustimmen. Diese Geschichte mutet seltsam an, doch sie verdeutlicht eine Haltung, einen Trend:

Heute scheint alles „okay“ zu sein, sofern es abgesprochen ist und alle Beteiligten einverstanden sind. Die herkömmliche Sexualmoral, falls es sie je gegeben haben sollte, wurde abgeschafft und durch eine Verhandlungs- oder Vereinbarungsmoral ersetzt. „Wenn es für dich in Ordnung ist..., für mich ist es in Ordnung.“ - „Gibt es ein Problem? Für mich nicht!“ Die Frage von Ge- und Verboten wird in diesem Kontext vollkommen irrelevant, ad absurdum geführt. Was bislang z. B. zu Perversionen zählte, ist nun „entperversifiziert“, egalisiert. Es gibt kein „Gut“ und „Böse“ mehr - diese Kategorien sind aufgelöst worden.

Ist man eingeladen in einen gemeindlichen Jugendkreis oder in eine Schulklasse und fragt Jugendliche, wann es ihrer Meinung nach dran sei, in einer Freundschaft sexuelle Beziehungen aufzunehmen, so lautet die Antwort bis auf ganz wenige Ausnahmen: „Wenn wir beide es wollen.“ Ich habe lediglich den Eindruck, daß manche Christen es sich länger überlegen, ob sie es wollen.

Die Frage des Aushandelns hat sicherlich auch einen positiven feministisch initiierten Hintergrund: Er entspringt dem Anliegen, sexuelle Gewalt - vor allem gegenüber Frauen - unterbinden zu wollen.

Die Verhandlungsmoral bewertet sexuelle Handlungen nicht per se, sondern ihr Zustandekommen. Werte im Sinne eines Konsenses darüber, was allgemeingesellschaftlich oder - für Christen - nach biblischen Maßstäben richtig und gut oder falsch und schlecht sei, wurden abgeschafft. Sie spielen hier keine Rolle mehr. Wichtig ist allein, daß etwas ausgehandelt wird.



Die Familiarisierung der Jugendsexualität

Seit über dreißig Jahren wird in Deutschland zu Jugendsexualität empirisch geforscht. Es gibt Veränderungen, aber es ist nicht belegt, daß sich die Aufnahme sexueller Beziehungen um Jahre vorverlagert hätte, wie viele annehmen. Die „Sexuelle Revolution“ stellte sich Ende der 60er Jahre für Jugendliche u.a. so dar, daß sie ca. drei Jahre früher - mit 16 oder 17 statt bisher mit 19 oder 20 mit sexuellen Aktivitäten begannen. Der Wunsch nach einer festen Beziehung, die in eine Ehe mündet, wurde ersetzt durch mehrere Beziehungen in Folge (passagere Monogamie) vor der Ehe oder jenseits der Ehe. Die hormonelle Kontrazeption trug dazu bei, daß vor allem für Frauen Sexualität nicht mehr mit Angst vor ungewollter Schwangerschaft gekoppelt war. Wo Ge- und Verbote immer weniger eine Rolle spielen, haben parallel dazu auch Schuldgefühle und Ängste abgenommen. Das ist historisch neu. Ängste gibt es jetzt an anderer Stelle: die Angst vor sexueller Gewalt hat sich ausgeweitet oder die vor dem Verlassenwerden. Sie sind zu einem viel größeren Thema geworden.

Junge Menschen wünschen sich im Grunde Liebe, Treue, Ehe und eine Familie. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Was sich geändert hat, sind die negativen Erfahrungshintergründe. Diese Generation hat so viel Scheitern und Beziehungszerbruch bei der Eltern-Generation erlebt und mit erlitten, daß sie ausgesprochen bindungsvorsichtig geworden ist. Die Angst vor dem Scheitern von Beziehungen und vor dem Verlassenwerden hat zugenommen. Ich habe noch die Ansicht einer Clique von vier jungen Frauen im Ohr, die mir vor ein paar Wochen bei einer Gemeindeveranstaltung erzählten, wie sie zur Zeit Beziehung praktizieren: Sie haben beschlossen, sie auf einen „low level zu fahren“ (O-Ton!), ihre Freunde zwar sexuell, aber emotional nicht an sich herankommen zu lassen. Mein erster Gedanke: Was für berechnende Frauen... - bis ich realisierte, wie tief die innere Verletzung sein muß, um zu einer solchen Haltung zu gelangen. Von Sexualität wird nicht mehr soviel erwartet, Nüchternheit hat sich breitgemacht. Es ist sicher auch gut, daß an dieser Stelle überhöhte Erwartungen und Vorstellungen ad acta gelegt wurden. Eine tiefe, befriedigende Beziehung leben, das wird die große (neue?) Herausforderung für die Zukunft.

Entsprechend dem gesamtgesellschaftlichen Trend, hat die Bedeutung von Sexualität auch für Jugendliche insgesamt abgenommen. Die Aufnahme sexueller Beziehungen war früher oft Anlaß zu heftigen Konflikten mit den Eltern, Grund zu großer Heimlichkeit oder mitbedingender Anlaß, das Elternhaus rechtzeitig zu verlassen. Das hat sich heute grundlegend gewandelt. Sexualität ist auch nicht mehr das Trennende zwischen den Generationen. Sie wurde familiarisiert. Insbesondere die Mütter übernehmen die Rolle der Aufklärenden - auch hinsichtlich der Kontrazeption. Als positiv werte ich, daß Sexualität selbstverständlicher thematisiert werden kann. So wird auch ihr Stellenwert nicht mehr so mystisch überhöht. Negativ erscheinen mir andere Beobachtungen.

Ein christliches Elternpaar berichtet uns, daß es von der 16jährigen Tochter darüber in Kenntnis gesetzt wird, daß sie mit ihrem Freund schläft. Problemlos grenzt sich die junge Frau ab und möchte zugleich, daß ihre Eltern Bescheid wissen: Sie hat sich mit deren Vorstellungen - vom Sinn des Wartens bis zur Ehe oder von der Wichtigkeit, daß der Freund ebenfalls Christ ist - auseinandergesetzt, aber für sich anders entschieden. Meines Erachtens ist die Mitteilung eine Bitte, dennoch in diesem Punkt weiter im Gespräch bleiben zu wollen. Ich vermute, daß die Argumente der Eltern nicht überzeugend genug waren, um sich ihnen anzuschließen. Zugleich ist ihr die Sicht der Eltern wichtig zur Auseinandersetzung. Vermutlich sucht die Tochter eine tiefere Ebene.

In vielen Familien findet Sexualität quasi unter den meist wohlwollenden Augen von Mama und Papa statt. Auch christliche Familien bilden hier immer weniger die Ausnahme.

Was keine große Überschreitung ist, kann aber auch unterbleiben.

Kein Sex darf auch wieder normal sein.



Das Ende der Monosexualität?

Sozialwissenschaftler führen heute die alte sexuelle Ordnung ad absurdum. Sie sprechen von Sexualitäten. Menschen outen sich inzwischen nicht mehr nur als schwul, hetero oder lesbisch, sondern auch z. B. als multi-, ambi- oder nonsexuell. Auch dabei gibt es dann keine längerfristigen Festlegungen mehr. „Zur Zeit ist das Objekt meiner Liebe ein Mann“, bekannte jüngst die italienische Rocksängerin Gianna Nannini. Oder: „Wenn ein Herz ein anderes berührt - welche Rolle sollte da die Geschlechtszugehörigkeit spielen?“ Zynische Frage... Parallel zur Phasen-Beziehung gibt es Phasen, in denen man Sexualität in verschiedener Orientierung oder gar nicht leben kann.

Der Hamburger Sexualforscher Professor Gunter Schmidt (Vgl. z. B.: Schmidt: Das Verschwinden der Sexualmoral, Hamburg 1996) hält Monosexualität für ein Vorurteil. Sexuelle Orientierung beruhe auf einer Wahl. Er bezweifelt, daß man Identitäten als ausschließlich heterosexuell bzw. homosexuell definieren könne. Für ihn sei Heterosexualität ein Phantom. Er plädiere für eine Auflösung der Kategorien hetero- bzw. homosexuell und der Restkategorie bisexuell. Die Auflösung der Monosexualität beginne im Kopf. Man denke daran, setze die Gedanken aber nicht unbedingt um.

Eine aktuelle Studie der Abteilung für Sexualforschung der Universität Hamburg unter Studierenden belegt, daß sich lediglich achtzig Prozent der befragten Männer und siebzig Prozent der befragten Frauen für ausschließlich heterosexuell halten. Ein Drittel der Männer und fast drei Fünftel der Frauen fühlen sich zumindest gelegentlich vom gleichen Geschlecht erotisch angezogen. Frauen scheinen hier flexibler zu sein als Männer. Ist das logisch?

Relativ einig sind sich Wissenschaftler in der Ansicht, Sexualität, sexuelle Orientierung sei veränderbar, wandelbar.

Ist die Monosexualiät am Ende? Gibt es Sexualitäten? Der Beweis der Richtigkeit muß erst noch erbracht werden. Die meisten Menschen leben nach wie vor in festen heterosexuellen Partnerschaften. Doch diese werden zunehmend unterschiedlich definiert und inhaltlich verschieden gefüllt. Ob Ehe oder nichteheliche Lebensgemeinschaft - die Partnerschaften halten solange es beiden damit emotional gutgeht. Das kann zwei Jahre sein oder dreißig. Auch hier lassen sich wiederum „individuelle Vereinbarungen“ treffen.

Der Begriff Treue hat sich sehr gewandelt. Er hat mit dem althergebrachten Begriff immer weniger gemein. Jugendstudien wie die aktuelle Shell-Studie belegen, daß Treue ein wichtiger Beziehungsbestandteil ist. Doch wie ist der Begriff heute inhaltlich gefüllt?

Treue wird für den Moment ganz ernst genommen, ist aber tendenziell losgelöst von den Faktoren Zeit oder Dauer. Treueanforderungen oder -verpflichtungen scheinen nur so lange Gültigkeit zu haben, wie die Beziehung als intakt empfunden wird. Das heißt, Treue ist weder an eine Person noch an eine Institution wie die Ehe geknüpft sondern nur noch an das subjektive momentane Gefühl.

Aus der Gay-Community (der Homosexuellen-Szene) ist bekannt, daß dort oft zwischen sozialer und sexueller Treue unterschieden wird. Das heißt, daß es gang und gäbe ist, mit einer Person zusammenzuleben oder verpartnert zu sein und daneben verschiedene sexuelle Beziehungen zu haben.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu. In der Antike wurde z. B. ebenfalls nicht zwischen Hetero- und Homosexualität unterschieden. Es gab ganz andere Kategorien. Man unterschied in der Hauptsache zwischen aktiv und passiv, zwischen Penetrator und Penetriertem... Das Geschlecht des „Objekts“ war unter moralischen Gesichtspunkten kein Problem. Die Gesellschaft wurde von Sex dominiert, einschließlich der Religionen. Von Göttern werden sexuelle Aktivitäten berichtet.

Demgegenüber fällt auf, daß im Alten Testament Gott gleichsam „entsexualisiert“ dargestellt wird. Er schuf durch sein Wort, nicht qua Sexualität. Hier wird etwas ganz Neues eingeläutet.

Gott schuf den Menschen als Mann bzw. Frau - heterosexuell.

Daß das Judentum dafür plädierte, Sexualität im Raum der Ehe einzugrenzen und zu verorten, war im damaligen kulturellen Kontext revolutionär!



Der Wandel sexueller Probleme: z. B. das Knappwerden der Wünsche

Normal wird die Klage: „Ich habe keine Lust.“ Das allein kann schon die Partnerschaft in Frage stellen. Ein Paar ist damit heute beunruhigt, verunsichert. Phasen der Langeweile können ganz normal sein. In einer Überflußgesellschaft verändert sich grundsätzlich die Relation von Bedürfnissen einerseits und Befriedigungsmöglichkeiten andererseits. Sexuelle Bedürfnisse können nicht unbegrenzt maximalisiert werden. Mittlerweile haben wir keinen Mangel an Befriedigungsmitteln, sondern einen Mangel an Wünschen.

Es läßt sich feststellen, daß nicht selten lebensgeschichtliche Themen in der Sexualität inszeniert oder reinszeniert werden. Dabei verstehen wir Sexualität nicht als etwas, das von uns als Person getrennt werden kann. Sexualität und Identität gehören zusammen.

In der Beratungspraxis beobachten wir, daß Menschen versuchen, mittels Sexualität bestimmte Konflikte zu thematisieren, um so eine Lösung zu finden. Wenn der zugrunde liegende Konflikt bearbeitet werden kann, verbessert sich das vordergründige Symptom oder wird nicht mehr nötig. Wir arbeiten mit Ratsuchenden an Wegen, die in der Realität verankert sind, nicht in der Illusion. Wesentliche Orientierung erhalten wir dabei durch die biblisch / theologische Ethik. Der Einzelne kommt letztlich nicht darum herum, eine Entscheidung zu treffen, wonach er sich ausrichten will. Diesen Weg muß er selbst wählen. Aber wir können ihm biblisch begründete ethische Hinweise geben. Wissenschaft bietet keine Orientierung, keine Ethik, keine Werte. Sie setzt sie voraus. Jeder muß sich entscheiden, was die Quelle seiner Orientierung sein soll, wonach er sich ausrichten, worauf er sich beziehen will. Es dann wagen, sich darauf einzulassen.

Durch alleiniges Pochen auf Moral und biblische Richtigkeiten werden Menschen nicht erreicht. Erkenntnisse und Überzeugungen sind erst dann glaubhaft, wenn sie in realen Beziehungen gelebt werden und auch andere Sinn und Erfüllung daran ablesen können. Pauschale Antworten oder Handlungsanweisungen greifen viel zu kurz. Damit werden wir der komplexen Thematik niemals gerecht. Wir halten es für wichtig, in der Beratung mit dem Einzelnen an seinen individuellen Fragen und Themen zu arbeiten, falls er uns damit beauftragt. Wesentlich finde ich das die Beratung begleitende Gebet um Veränderung, um Voranschreiten in schwierigen Bearbeitungsprozessen - schließlich um Heilung. Ich glaube an Gott, der alles vermag, an seine heilende, verändernde Kraft. Aber ich möchte das Gebet nicht durch „magisches Denken“ ersetzen. Das kann bedeuten, einen Menschen unter Umständen darauf aufmerksam machen zu müssen, daß er Gefahr läuft, eigene Verantwortung an Gott zu delegieren.

Wir kommen nicht umhin, genau hinzuschauen und zu fragen, was sucht der Mensch in seiner Sexualität? Welcher lebensgeschichtliche Konflikt wird auf dieser Ebene, über diese Schiene, auf diesem Wege (re)inszeniert?

Gott ist im übrigen nicht gegen unsere Bedürfnisse. Sie gehören zur Schöpfung. Doch wenn wir Antworten auf unsere Bedürfnisse im illusionären Raum suchen, greifen wir ins Leere.



[ 1 ] Die Autorin, Dorothee Erlbruch, ist Dipl.-Sozialarbeiterin, Fachreferentin des Weißen Kreuzes.



Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz" Zeitschrift für Lebensfragen entnommen. Sie können gerne diese Zeitschrift auf Spendenbasis abonnieren.



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Ins Netz gesetzt am 11.06.2002; letzte Änderung: am 14.02.2012

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